Gastarbeiterinnen: 60 Jahre Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung
Die Zuwanderung aus der Türkei nach Deutschland wird dieses 60 Jahre alt. Aus Gastarbeitern wurden Ausländer, Migrantinnen, Deutschtürken oder Menschen mit Migrationsgeschichte.

Die Zuwanderung aus der Türkei nach Deutschland wird dieses 60 Jahre alt. Bepackt mit Koffern voll Hoffnung auf Arbeit und Abenteuer, machten Männer und Frauen sich auf die Reise ins 'Gurbet' – in das ferne Land, das ihnen dazu verhelfen sollte, sorgenfrei leben zu können. Die anfänglichen Rückkehrabsichten wurden größtenteils ersetzt durch verlängerte Aufenthalte und schließlich endgültigen Bleibeabsichten. Aus Gastarbeitern wurden Ausländer, Migrantinnen, Deutschtürken oder Menschen mit Migrationsgeschichte. Zu ihnen gehören eben auch Frauen der ersten Generation.

'FÜNF HILFSARBEITER – SOFORT!'

In den Jahren des Wirtschaftswunders der 60er Jahre stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften aus dem Ausland. Gesucht wurden „motivierte“, körperliche gesunde Arbeitskräfte, die innerhalb einer befristeten Dauer und zu einem billigeren Preis maximal verwertet werden konnten. „Bitte sofort fünf Stück Hilfsarbeiter“ – so lauteten damals Anforderungen der Arbeitgeber per Fernschreiben.“ (1), die an die Anwerbekommissionen in Italien oder der Türkei gesendet wurden. Fünf Stück Hilfsarbeiter, so einfach wickelte das Kapital seine Warenbestellung Arbeitskraft ab.

GASTARBEITERINNEN: ANGEWORBEN, UM ZU ARBEITEN

Auf den Bildschirmen flimmerten vor allem die Bilder von jungen Männern, die nach stundenlanger Zugfahrt und meist mit einem Gepäckstück an einem der vielen Bahnhöfe ankamen. Dass in den folgenden Jahren immer mehr Frauen kamen, wurde in der Öffentlichkeit und später in der Forschung kaum wahrgenommen und beachtet. Dabei wuchs ihre Zahl stetig: „Zwischen 1960 und 1973 versechzehnfachte sich die Zahl der ausländischen Arbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik von rund 43.000 auf über 706.000. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der ausländischen Arbeitnehmer verdoppelte sich in diesem Zeitraum von 15 auf über 30 Prozent.“ (2). Zwischen 1967 und 1973 war fast jede dritte Person der vermittelten Lohnarbeiter eine Frau. Sie kamen, weil ihre Arbeitskraft gezielt abgeworben wurde oder auf dem Weg des Familiennachzugs.

GASTARBEITERINNEN: 'GESCHICKT, BILLIG'

Die boomende, deutsche Wirtschaft suchte neben männlichen Arbeitskräften auch junge Arbeiterinnen, deren Vermittlung sich in den Entsendeländern allerdings meist schwierig gestaltete und für lange Wartezeiten sorgte. Tradierte Geschlechter- und Familienverhältnisse mussten umgewälzt werden. Wie sonst konnte eine Frau alleine, ohne männlichen Oberhaupt oder Begleitung, in ein fremdes Land reisen? Gleichzeitig befürchtete man sittlich-moralische Gefahren, die den Frauen im fernen Land drohten. „Schlussendlich überwog in den Familien vieler Migrantinnen jedoch das Argument, dass die nach Deutschland geschickten Töchter und Ehefrauen in kurzer Zeit ein vergleichsweises gutes Einkommen erzielen sowie männliche Familienangehörige nachholen könnten. (…) Unter jungen ledigen Frauen spielten jedoch auch Abenteuerlust und der Wunsch nach Unabhängigkeit eine Rolle“, so Mattes. Für die Gastarbeiterinnen war der Weg nach Deutschland Qual und Aufbruch zugleich. Neben Trennungsschmerz und Fernweh, führte die eigene Lohnarbeit im „Gastarbeiterland“ nicht selten zu einem Emanzipationsschub. Studien zufolge waren 42 Prozent der Gastarbeiterinnen ledig oder „lediggehend“, d.h. sie reisten ohne Ehemann nach Deutschland. Besonders Spanierinnen und Türkinnen ließen 1960 Ehemann und Kindern zurück bzw. holten sie erst später nach.

Migrantinnen wurden in erster Linie in der Textil-, Bekleidungs-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie eingesetzt. Doch man fand sie auch an gesundheitsschädlichen Arbeitsplätzen in der Elektrotechnik und der Eisen-/Metallindustrie, wie bspw. bei Siemens. So stellten in dessen Berliner Werken Migrantinnen phasenweise mehr als die Hälfte der Gesamtbelegschaft. (3) Die gezielte Anwerbung von weiblicher Arbeitskraft war für das Kapital in Deutschland überaus attraktiv. Benötigt wurden „geschickte, billige und willige“ Migrantinnen, für die die Unternehmen sogar bereit waren, Wartezeiten von sechs bis neun Monaten bei der Vermittlung in Kauf zu nehmen. (4) Ihre Löhne wurden nach Leichtlohngruppe bezahlt und lagen damit weit unter dem durchschnittlichen Einkommen. Der Einsatz von Migrantinnen sollte jedoch nicht nur die Leichtlohnarbeitsplätze sichern, mehr noch, das Ziel der Arbeitgeber war, diese in andere Branchen auszuweiten. Doch dagegen formierte sich in den 70er Jahren eine Reihe kämpferischer betrieblicher Kämpfe – geführt auch von Frauen.

DIE PIERBURG-FRAUEN

Einen besonderen Platz nimmt dabei der Streik beim Autozulieferer Pierburg 1973 in Neuss ein, der von migrantischen Frauen angeführt wurde. 70 Prozent von insgesamt 3.800 Beschäftigten waren Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter (5). Griechinnen, Italienerinnen, Jugoslawinnen, Spanierinnen, Türkinnen sowie auch deutsche Fließbandarbeiterinnen legten in einem wilden Streik die Arbeit nieder, weil sie in der Frauen-Leichtlohngruppe schlechter bezahlt wurden als die Männer. Die Streikenden forderten die Abschaffung der Leichtlohngruppe und eine Mark zusätzlich für alle, was auch die Einbeziehung eher männlicher und deutscher Facharbeiterkollegen erlaubte.

Der Streik dauerte eine ganze Woche. Die migrantischen Kolleginnen schafften es, ihre deutschen und männlichen Kolleginnen und Kollegen auf ihre Seite zu ziehen und den Kampf gegen den Niedriglohn mit Errungenschaften zu beenden. Dafür suchten sie gezielt den Kontakt zu deutschen Arbeiterinnen und Arbeitern, gingen zum Beispiel in die von jenen oft besuchten Kneipen und erzählten dort von dem gegen sie gerichteten Rassismus (6).

Arbeitergeber, Medien und auch Politiker*innen versuchten, den Streik zu kriminalisieren. Begonnen hatte alles mit der Verteilung von Flugblättern durch griechische Arbeiter*innen, auf denen sie in verschiedenen Sprachen zum Streik aufriefen. Daraufhin rückte die Polizei an, um die Aktivistinnen festzunehmen. Während eines Handgemenges bedrohte ein Polizist sie mit gezogener Pistole und beleidigte sie rassistisch. Als sich die Dimension des rassistischen und gewalttätigen Angriffs der Polizei im Betrieb herumsprach, legte eine Solidarisierungswelle mit den migrantischen Kolleginnen den gesamten Betrieb lahm.

Der Streik war erfolgreich: Die diskriminierende unterste Lohngruppe zwei, der migrantische Arbeiterinnen zugeteilt waren, wurde abgeschafft und es gab eine Erhöhung des Lohns um 65 Pfennig pro Stunde. Nach dem Arbeitskampf kam es zu keinen Entlassungen. Der Streik ermutigte gleichzeitig andere Industriearbeiterinnen und Industriearbeiter zum Arbeitskampf. So schreibt Peter Birke, dass es „fast zeitgleich […] zu einer Reihe weiterer Streiks von Industriearbeiterinnen gekommen war: Bei AEG in Neumünster, bei den Deutschen Telefonwerken in Rendsburg und anderswo waren sie für gleichen Lohn für gleiche Arbeit eingetreten.“ (7)

ANERKENNUNG UND WERTSCHÄTZUNG

Rassistische und sexistische Hierarchisierung führen noch heutige häufig zur Spaltung der Arbeitenden eines Betriebs und in der gesamten Gesellschaft, die ansonsten sehr viel gemeinsam und jeden Grund haben, sich zu verbünden und zu organisieren. Der wilde Streik bei Pierburg ist deshalb von so großer Bedeutung, weil die Arbeiter, angeführt von den migrantischen Frauen, ihre sexistische und rassistische Spaltung überwinden konnten und dadurch im überdurchschnittlichen Maße erfolgreich waren. Heute, 60 Jahre später, geht der Kampf um „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in eine neue Runde. Besonders in den wachsenden Arbeitskämpfen im Dienstleistungsbereich geht es Frauen unterschiedlicher Herkunft um materielle Anerkennung und – wie aktuell in den Kämpfen bei Vivantes und der Charite - um bessere Arbeitsbedingungen.

Quellen:
(1) Aus Gastarbeitern wurden Einwanderer, in 40 Jahre Gastarbeiter, Hrsg. Meier-Braun u.a.
(2) Dr. Monika Mattes: „Gastarbeiterinnen in der BRD“. Immer mehr Lohnarbeiterinnen migrierten nach Deutschland
(3) https://new.siemens.com/de/de/unternehmen/konzern/geschichte/specials/frauen-bei-siemens.html
(4) www.freiburg.de
(5) Dieter Braeg (Hg.): „Wilder Streik – das ist Revolution“. Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973. Mit DVD. Die Buchmacherei, 2013.
(6) Migration und Arbeitskämpfe - Rosa-Luxemburg-Stiftung (rosalux.de)
(7) Birke, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a. M. 2007

für deutsch

Photos: Jannoon028/ Freepik

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